Prost Gemeinde,
diese uralte Diskussion schleppt sich nun schon seit fast 10 Jahren durch diverse Websites und hat jedesmal für heftige Auseinandersetzungen gesorgt. Wenn sie jetzt mal wieder auflebt, hoffe ich als alter Sack mit ein paar Informationen aushelfen zu können, auch wenn kluge Leute wie Ingo hier schon einiges richtiggerückt haben, damit nicht schon wieder ein Glaubenskrieg daraus wird.
1. Gerhards Fund ist echt, aber nicht neu (Original-Veröffentlichung 1988, "SpringerLink Date: ... 20. September 2005). Das hat Ingo bereits in diesem Thread geklärt.
Das von dem extrem renommierten Springer-Verlag Heidelberg/Zürich/New York (nicht zu verwechseln mit dem Zeitungsverlag Springer) online ziteirte Résumé (Gerhards Fundstelle) lautet dreisprachig: "Die Diskrepanz zwischen kieferorthopädischer Effektivität des Headgears einerseits und die mangelnde Akzeptanz dieses Gerätes seitens der Patienten andererseits stellen in nicht wenigen, Fällen das angestrebte therapeutische Ziel in Frage. Der festgebundene Headgear bietet die Möglichkeit, die >Vergeßlichkeit< der Patienten zu umgehen und die Gesamttragezeit deutlich zu verkürzen. Eine besondere psychische Führung der Patienten während dieser Zeit ist Voraussetzung für den Erfolg."
Das ist für diese Publikationsgattung starker Tobak und mit Sicherheit auch wissenschaftlich unhaltbar, wie von hgirasol und Ingo schon geklärt. Mir scheint trotzdem, daß einige der Antworten auf Gerhards Post einen sogenannten Forschungsbericht, in dem experimentelle neue Behandlungsformen angesprochen werden sollen, mit einem Tatsachenbericht aus der Realität verwechseln.
Zu den Reaktionen:
2. Marty: >Ich glaube ich sage Dir nichts Neues - dass es allgemein sowas nicht gibt<
Lieber Marty, daß es so etwas _in unserem Land_ und _zu unserer Zeit_ wohl kaum gibt, heißt nicht, daß es das nie und nirgendwo gegeben hat. Um so weniger, als der von Gerhard gefundene Artikel keineswegs ein Alltagsphänomen beschreiben muß, sondern ein Beitrag zur klinischen Forschung sein soll.
>Wie oft hast Du denn schon HG auf der Straße gesehen - das wäre aber die logische Konsequenz ?<
Das wäre nur dann die logische Konsequenz, wenn die von den Autoren untersuchte Methode sich schlagartig überall verbreitet hätte, selbst über den neutral gehaltenen Titel ihrer Arbeit "Headgear - ein Erfahrungsbericht" weit hinaus.
>Merkwürdig finde ich, dass das abgebildete Buch, eine ganz anderen Titel hat.<
Das "Buch", in dem der Artikel erschienen ist, heißt: Journal of Orofacial Orthopedics/Fortschritte der Kieferorthopädie, Volume 49, Number 3/Mai 1988, Verlag Urban & Vogel. Es handelt sich um eines der weltweit renommierten Fachjournale, die meist in Jahrbuchform erscheinen (insofern ist der Begriff Buch gerechtfertigt).
>Ferner dass die Site, von der das pdf gedownloadet werden könnte, vom Browser als 'nicht Vertrauenswürdig' ausgewiesen wird.<
Das ist für mich nur erklärlich, wenn es um irgendein Cookie-Ding geht, z.B. weil Du nicht als Bezieher der Online-Ausgabe dieser Zeitschrift registriert bist (die Druckversion wird immerhin zu horrenden Preisen verkauft). Von so etwas verstehst Du viel mehr als ich. Was mich angeht, konnte ich als Nichtmitglied der angesprochenen Wissenschaftsgemeinschaft vorerst nur die auf der von Gerhard gefundenen Titelseite angebenene Adresse der Autoren validieren. In der Tat: Sie existieren und unterhalten an der angegegebenen Adresse in Pforzheim eine reale KFO-Praxis.
>Im general Board, hat kürzlich jemand berichtet, dass er von so einer Behandlung betroffen ist, was dann von verschiedenen Member, als Märchen abgetan wurde. Ich empfand das als vorschnell, weil man ja nicht weiß, was irgendwo auf der Welt passiert. Fakt ist aber auch, dass es bei uns wohl nicht angewandt wird und damit drücke ich mich noch vorsichtig aus.<
Genau so hätte ich das vorher auch formuliert, aber es dürfte (vorbehaltlich des 32$-Downloads) wohl ziemlich feststehen, daß das zu einer gewissen Zeit - und zwar vor 1988 - an einem bestimmten Ort - Pforzheim - in einer bestimmten Praxis - der der Autoren - experimentell im Rahmen eines wissenschaftlichen Versuchs ausprobiert worden ist. Wohlgemerkt: in einem engumgrenzten Winkel unseres Landes, und wohlgemerkt: vor (wenn wir die Auswertungszeit der Autoren mitrechnen) 20 Jahren und mehr.
3. Hamster: >Nun, ich denke, das hat gerade in Deutschland etwas damit zu tun, dass hierzulande wenig Headgears eingesetzt werden. Man greift eher auf alternative Behandlungsmethoden zurück.<
Ja. Eindeutig hat sich das seit 1988 (orig. Erscheinungsdatum von Gerhards Studie!) dramatisch verändert.
>Hierzulande und wahrscheinlich generell in zivilisierten Ländern hat immer noch jeder Mensch in letzter Instanz immer die Entscheidungsgewalt über sich selber. Einem festen Einsetzen des Headgears können die Eltern also noch dafür sein, selbst wenn das Kind noch minderjährig ist, ist dafür das Einverständnis des Patienten notwendig...<
Da hast Du absolut recht, und ich habe das Gefühl, daß Du entweder schon auf die Cathy-Debatte eingehst (s.u.) - oder die USA nicht mehr zu den zivilisierten Nationen rechnest. :-) Vermutlich hast Du die Cathy-Debatte aber gar nicht gekannt.
4. Tyrael: "ich kenne 2 Leute in den USA die einen haben, und das scheint da auch keine seltenheit zu sein..."
Jetzt mal Fakten gegen Mythen. Es gab einen einzigen Fall von unfreiwillig festgedrahtetem HG, außerhalb irgendwelcher Laborstudien (an denen die Teilnahme natürlich freiwillig sein muß!), von dem ich je gehört habe und den ich als glaubwürdig einstufe. Dieser Fall wurde in Maurice's Forum diskutiert, noch bevor es dieses hier gab.
Das Mädchen kam aus einem der Oststaaten der USA und hieß Cathy. Sie war bereits etwa 15, hatte einen schweren Pubertätsschub (so ihre eigenen späteren Worte) und keinen Bock mehr, den noch vorgesehenen Headgear zu tragen, statt auf Parties zu gehen. Als sie eines Abends nicht zur vereinbarten Zeit von der Party wiederkam, durchwühlte die Mutter ihr Zimmer und fand Weed unter dem Bett. Nun muß man voraussetzen, daß in Amerika eine ganz andere Kultur des Aufwachsens und der Familie herrscht als bei uns. Die frühe Selbstbestimmtheit reifer junger Menschen, bei uns anerkanntes Bildungsziel, ist dort nicht Teil der ständig zitierten "Familienwerte". Wer je auch nur als Austauschschüler dort war, wird das bestätigen.
Cathys Mutter wurde durch den Weed-Fund zur verzweifelten Furie. Um ihr Kind vor dem Schicksal im Trailer-Park zu bewahren, tat sie alles, um Cathys bisherige Sozialkontakte zu kappen und sie bis zum High-School-Abschluß nur noch an die Schulbücher zu fesseln. Außer anderen Intrigen brachte sie es fertig, den behandelnden KFO wider dessen besseers Wissen dazu zu bringen, Cathys Headgear einzudrahten.
In dieser Phase suchte die verzweifelte Cathy Trost im Internet und fand Maurices damalige Website. Ihr schlugen auch dort flames entgegen, weil viele ihr nicht glauben wollten, die meisten ihrer amerikanischen Landsleute eingeschlossen. Es blieb letztlich eine Episode von etwa einem Vierteljahr, dann sah die Mutter ein, daß es so nicht geht, und der überrollte KFO entschuldigte sich bei ihr Cathy aller Form - er wußte sehr wohl, daß er Sch*e gebaut hatte! Warum halte ich gerade Cathys Schilderung für glaubwürdig? Weil ich damals bei Maurice schon allein dadurch gegen die debilen Schmähpostings für sie eintreten mußte, daß sie eine (junge) Dame war, ungeachtet des Wahrheitsgehalts. Und weil wir dadurch in einen Austausch getreten sind, in dem sie mir Einzelheiten erzählt hat, die nur wissen konnte, wer so etwas aus eigenem Erleben kannte. Ich habe zuletzt aus Los Angeles von ihr gehört (also so weit wie möglich von der Mutter entfernt), als diese üble Episode lange hinter ihr lag.
Zuammenfassend: Dieser Fall ist auch in Amerika so jahrhundertselten, daß Cathy keiner glauben wollte. Sie ist gerade die Ausnahme, die alle Regeln bestätigt. Wenn Du mehr gewußt hättest, Tyrael, hättest Du nicht behauptet: "keine Seltenheit"! Der Konformitätsdruck an Highschool und College in Amerika ist so legendär, daß darüber zahllose Filme gedreht werden - dagegen sind wir hier in Europa eine Toleranzinsel der Individualität.
5. Ingo: "Könntest Du da ein paar Worte dazu sagen, wie lange sollen die den Bogen drinhaben, wie geht das mit Körperpflege und Zahnpflege (wenn da ständig so ein Bügel im Weg ist), und dann natürlich Essen und Trinken?
Hast Du die mal gefragt, warum sie den festen Hg haben?"
Rechne nicht mit Tyrael, wenn Du ernsthafte Antworten willst. Also: Putzen? Schön von oben und von unten. Trinken fast nur mit Strohhalm, das kennt jeder HG-Träger. Duschen mit dem Bogen drin: habe ich auch schon gemacht, das geht, zumal ja der Nackengurt immer abnehmbar ist. Aber essen? Ich kannte HG-Träger, die haben sich aus Faulheit mal ein paar Erdnüsse etc. eingeworfen, ohne den Bogen abzunehmen. Mehr nicht. (Für mich war das nichts mit dem Geknirsche unterm Bogen.)
Aber ein Vierteljahr nur so? Laut Cathy: alles klitzekleinschneiden, dann in Erdnußgröße under dem Bogen durchlancieren und auf den Backenzähnen kauen. Höchststrafe! Aber noch schlimmer ist doch das soziale Element. Cathy berichtete, daß sie zur Hochzeit ihrer Cousine als Brautjungfer in HG erscheinen mußte, nur wegen des Gegenterrors ihrer Mama gegen all die bösen Verlockungen am Rande unserer Lebenswege. Das sind doch Momente, in denen man selbst als angepaßte, regeltreue Person mal so was wie den HG zu hause läßt!
6. Hgrirasols Referenz-Upload; 7. Ingos Wissenschaftskritik, erfreulich fundiert, die mir aus dem Herzen spricht. In diesem Zusammenhang mal ganz deutlich: Alles, was die deutsche Wikipedia zum Thema bisher bietet ist, ist ein Ausbund von allzu kraß fetischgetriebenem B*Sh*t.
7. Dann etwas Interessantes von Extraoral: >Schon mal auf die Idee gekommen, daß es beim fixed-hg, falls es ihn gibt, nicht (ausschließlich) um ein Compliance-Problem geht? Es ist duchaus möglich, daß Leute das als Motivationshilfe freiwillig tun.<
Natürlich, um nichts anderes geht es als um Compliance! Nur mit Deinem Freiwilligkeitsargument habe ich Probleme. Bei allem Bisherigen, soweit halbwegs überprüfbar real, geht es eben um das Brechen des Willens.
Wer sich überhaupt freiwillig aus eigenem Antrieb einer Behandlung unterzieht, also als erwachsener oder fortgeschritten jugendlicher Mensch, ist längst so selbstbestimmt, daß er solche Zumutungen hinter sich hat. Von Leuten, die sich angeblich freiwillig ihren HG eindrahten lassen, »um sich besser einzugewöhnen«, hört man gelegentlich in Fantasie-Stories. Genau da gehört das hin.
>Ich habe hierzu folgenden Beitrag gefunden:
>
https://dereferer.me/?https://dereferer.me/?http://www.zahnspangen.cc/forum.php?postid=6076<
Soso... früher hat man uns dort fast geheimpolizeilich verfolgt, wen man behauptete: "Headgear gibt es wirklich". Oder: "Die Erde dreht sich um die Sonne." Oder: "London ist die Hauptstadt von England." So sensibilisiert war man, um nur kein Festisch-Posting zuzulassen. Und heute!? Derselbe alte B*lsh*t ;-)
8. Ingo sagt:>Das überzeugt nicht. Scheint mir eher der übliche Blöff zu sein.<
Und das unterstütze ich voll.
Veterano