Ein headgear kommt ja dann zur Anwendung, wenn die OK-Molaren "nach rückwärts bewegt" (distalisiert) werden müssen. Meist ist das dann der Fall, wenn eine große sagittale Stufe (eine deutliche Unterkieferrücklage) vorliegt. Die Möglichkeit, einfach die 4er zu entfernen und die Front zurückzuholen ist eben in ausgeprägten Fällen nicht ausreichend. Dann kann ein headgear oder eine Herbst-Apparatur schon Wirkungen erzeugen, die eben allein mit einer festen Spange nicht erzielbar sind. Wird dies entsprechend gründlich besprochen, ist die Akzeptanz in der Regel herstellbar, der Patient ist dann aus Einsicht eher bereit, das Teil auch die geforderten 14-16 Std/tgl. zu tragen. Der Moment in dem es eingesetzt wird, ist trotzdem ein "einschneidendes" Erlebnis. Das Ding stört sofort, weil man die Lippen nicht mehr normal schließen kann, das wird einem schlagartig bewusst. Beim Blick in den Spiegel wird einem auch sofort klar, dass man das Ding nicht verstecken kann. Das hat Auswirkungen auf die Organisation des Tages! Wem will man es zeigen oder wem lieber nicht? Soll die Freundin/der Freund es wissen, oder kann man es ihm/ihr verheimlichen. Läuft man Gefahr, zurückgestoßen zu werden, wenn man jetzt plötzlich mit so 'ner extremen Knutschbremse daherkommt. Das erfordert schon ganz schön Traute, was natürlich schon gleich zu beweisen ist, wenn man die Praxis verlässt und das Ding doch tragen muss, um auf die geforderten Zeiten zu kommen.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass man sich da durchbeißen muss. Ich hatte mich im zarten Alter von 33 Jahren zu einer kieferorthopädischen Behandlung durchgerungen und mir auch gleich mal das volle Programm gegönnt: Diagnose: einseitiger seitlicher Kreuzbiss, unterentwickeltes Mittelgesicht, Kopfbiss, Kiefergelenkssymptomatik/Knacken. Funktionelle Vorbehandlung mit Desorientierungs-Schiene, gefolgt von einer Repositionierungsschiene.
Chirurgische Gaumennahtsprengung mit einseitiger Kortikalisschwächung (auf der Kreuzbiss-Seite) um eine asymmetrische Oberkieferdehnung mit einer festzementiertenen GNE-Schraube zu erzielen. An dieser Hyrax-Schraube waren Häkchen angelötet, die mit einer Hickham-Facemask mittels Gummiringen verbunden wurden, um den chirurgisch gelösten OK nach vorne zu bewegen. Die OK-Dehnung wurde mit einer viertel Drehung jeden Tag forciert und brachte mir innerhalb weniger Wochen ein Diastema ein, auf das Arnie Schwarzenegger hätte neidisch werden können. Das Einsetzen der Hyrax-Schraube fand an einem späten Januar-Nachmittag statt, die Facemask wurde auch gleich installiert und weil es selbst im universitären Betrieb doch eher eine Ausnahme darstellte, durften alle Assistenten und der Herr Professor höchstselbst und noch etliche Zahnmedizinstudenten diesem Schauspiel beiwohnen. Volle Öffentlichkeit von der ersten Sekunde an sozusagen, ich fühlte mich schon SEHR exponiert! Gott sei Dank war der Nachhauseweg dunkel und ich war, obwohl ich sonst immer mit der U-Bahn in die Zahnklinik gefahren war, dieses Mal mit dem Auto unterwegs. Zuhause angekommen, ich lebte in einer fünfköpfigen WG, durfte ich auch dort erstmal verteidigen, was ich denn da angefangen hatte. Aber vom zweiten Tag an, beschloss ich, damit einfach offensiv umzugehen und das Teil ständig, ja, auch öffentlich (Einkaufen, Wochenmarkt, Kino, Museum usw) zu tragen, ich hätte sonst ständig jedem erklären müssen, woher denn die komischen Abdrücke auf meinen Jochbeinen herrührten, die die Facemask dort hinterließ und die selbst nach Absetzen noch eine ganze Weile in Form dezenter Hautveränderungen bestehen blieben. Knutschen war mit dem Ding definitiv nur mittels einer artistischen Zungenverrenkung oder mit einem spitzen Knutschschnäuzchen möglich.
Dann Multibracketapparatur oben und unten, zeitweise ergänzt durch palatinale und linguale Vierkantbögen um die Molaren aufzurichten oder wahlweise die Verankerung zu verstärken.
Es war heftig, aber ich habe es geliebt und wünschte mir heute, ich wäre jung genug, um es nochmal zu machen. Heute hätte ich Erklärungsnöte in meinem nicht ganz kleinen Freundeskreis, weil mir niemand mehr die Notwendigkeit abkaufen würde, eine feste Zahnspange zu tragen und niemand die Begründung "aus persönlicher Vorliebe" akzeptieren würde! Echt ein Jammer!