Junge eine ganze Nacht in Not - und keiner hilft
Die Odyssee eines 15-Jährigen, der wegen einer verrutschten Zahnspange stundenlang Schmerzen erleiden musste
Von unserem Redaktionsmitglied Marlen Singer
Diese Nacht werden Brigitte Marx und ihr Sohn Christian so schnell nicht vergessen. Auslöser des Ungemachs war eine Zahnspange. Ein verrutschter Bügel schnitt dem 15-Jährigen die Zunge ein. Dass er es aber mit der Angst zu tun bekam und in Panik ausbrach, daran ist wahrscheinlich zu einem guten Stück des System die Notfallmedizin Schuld. Erst am nächsten Morgen konnte ein Zahnarzt dem Jungen helfen.
Es ist noch nicht lange her, seit Christian eine fest verschraubte Zahnspange trägt. Zwei Jahre muss er das Metallgeflecht ertragen, um hinterher mit schönen geraden Zähne da zu stehen. Der 15-Jährige lässt deshalb sogar Hänseleien über sich ergehen. Aber der Spott der Mitschüler ist nichts gegen das, was ihm in der Nacht auf vergangenen Samstag passiert ist. Ein Bügel der Zahnspange hatte sich verklemmt, schnürte die Zunge ein. "Mein Sohn blutete, die Zunge schwoll an", erinnert sich Brigitte Marx.
Angst und Atemnot überfielen den Buben, die Mutter musste handeln. Sie telefonierte mit dem Klinikum. In der Notaufnahme habe es aber keine Hilfe gegeben. Mit dem Hinweis, in Augsburg existiere nun mal kein zahnärztlicher Notdienst, sei sie abgewimmelt worden, berichtet sie. Als sie hartnäckig blieb, habe man ihr den Rat gegeben, doch mal den Werkzeugkasten zu suchen. "Ich sollte selber mit der Zange die Zahnspange öffnen", empört sich die Mutter.
Sanitäter kommen nicht weiter
Diesen Rat befolgte sie nicht, hatte Angst, ihren Sohn noch mehr zu verletzen. Sie telefonierte mit der Rettungsleitstelle. Die schickte zwei Sanitäter. Sie konnten Christian zwar beruhigen, aber sonst auch nichts bewirken, wie die Augsburgerin weiter berichtet. Anrufe der beiden Fachleute für erste Hilfe im Klinikum hätten keinen Erfolg gehabt. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt habe sich für nicht zuständig erklärt. Wieder sei nur auf den fehlenden nächtlichen Zahnarzt-Notdienst verwiesen. Die Mutter solle doch nach München oder Ulm fahren, wenn es denn gar so pressiere.
An diesem Punkt war Brigitte Marx, wie sie erklärte, mit den Nerven am Ende. Ihr Sohn bekam einen Eisbeutel zum Abschwellen in den Mund, sie wachte an seinem Bett. Am Morgen sei die Odyssee weitergegangen. Denn nun wollte die Familie endlich wissen, welcher Zahnarzt am Wochenende für sie Zeit habe. Die Rettungsleitstelle gab an, die Liste liege nicht vor und verwies auf die Tageszeitung. Erst der Pförtner der Augsburger Allgemeinen konnte Namen und Telefonnummern nennen, Christian wurde bald aus seiner misslichen Lage befreit.
Problem am Wochenende
Werde in Augsburg nie am Wochenende krank - ist das die Moral von der Geschichte des 15-jährigen Augsburgers? Das will Dr. Peter Wengert, Leitender Oberarzt in der Notaufnahme des Zentralklinikums, so nicht stehen lassen. "Wir weisen keinen ab, den wir nicht in der Notaufnahme gesehen haben", sagt er. Auch die Familie Marx sei gebeten worden, mit dem Buben ins Klinikum zu kommen. Das will die Familie so nicht verstanden haben.
Ein Problem ist und bleibt die zahnärztliche Versorgung am Wochenende. "Da gibt es Informationsmangel", wie Alois Stiegelmayr, Vorsitzender der Kassenzahnärztlichen Vereinigung, sagt. Schuld daran sei die Leitstelle der Rettungsdienste. Die weigert sich nämlich, die Namen und Telefonnummern der diensthabenden Zahnärzte, die von Samstag, acht Uhr, bis Montagmorgen acht Uhr, erreichbar sind, zu nennen.
Der Grund? Thomas Rauch von der Leitstelle spricht von fehlerhaften Angaben auf den Einsatzlisten, weshalb nur noch auf die Zeitung verwiesen werde. Die Zahnärzte behaupten, die Leitstelle fordere ein Honorar in fünfstelliger Höhe...
Augsburger Allgemeine vom 31. August 2004