Kapitel 05/06
Nachdem Lea vom Baum geflogen war und mit schmerzerfüllter Stimme nach ihrer Mutter geschrien hatte, hatten die beiden größere Sorgen, als sich Gedanken darum zu machen, dass die Tochter an dem Tag theoretisch ihre Außenspange noch ein paar Stunden tragen müsste, um die Tragezeit einzuhalten.
Aber wenigstens war sie nicht mit dem Metallbogen vorm Gesicht in den Baum geklettert! DAS hätte gehörig schief gehen können!
Und als der Krankenwagen schließlich mit Blaulicht in Richtung Krankenhaus davongebraust war, war in den Gedanken der Mutter immer noch kein Platz für den Metallbogen. Vielmehr ging es nun darum, die Dinge zu richten, die ihre Tochter vermutlich brauchen wird, wenn sie tatsächlich über Nacht im Krankenhaus bleiben muss.
Das alles wurde mehr oder minder unzeremoniös in die Reisetasche gepackt. Einen kurzen Augenblick hatte Frau Martin tatsächlich überlegt, ob sie auch den flachen blauen Beutel - dessen Inhalt nun auf dem kleinen Tisch zwischen ihren beiden liegt - einpacken sollte. Doch dann hatte sie sich dagegen entschieden und stattdessen lieber einen zweiten Schlafanzug eingepackt.
Tatsächlich hatte sich Lea den Arm gebrochen und war noch am selben Tag operiert worden. Abends, zum Ende der Besuchszeit, war die Narkose gerade weit genug abgeklungen, um von der Mutter aus dem Operationskittel in den Schlafanzug "umgepackt" zu werden. Selbst wenn sie die Außenspange mitgebracht hätte, wäre das keine passende Gelegenheit gewesen. Weiß-der-Geier, was Lea in ihrem Tran damit angestellt hätte...
Am nächsten Tag war das Mädchen schon fast wieder komplett sie selbst. Vielleicht sogar noch aufgekratzter als normal, sicherlich bedingt durch die Schmerzmittel und anderen Medikamente... Sie hatte ihre Mutter gebeten, ein paar Kleinigkeiten zu holen, die in der Aufregung zuhause vergessen worden waren. An oberster Stelle natürlich das Ladegerät für Leas Smartphone... Schließlich ist der Akku auf 25% gefallen. Damit würde sie es nie durchhalten, bis sie endlich das Krankenhaus verlassen dürfe...
Nach ihrer Außenspange hatte Lea - oh Wunder! - natürlich NICHT gefragt.
Frau Martin hatte zwar vorsichtig anklingen lassen, ob sie Lea das Teil mitbringen solle. Da die Antwort jedoch "wie erwartet" ausgefallen war, hatte sie das Thema dann auf sich beruhen lassen. Zumal es ja wohl auch nicht schaden würde, ihrer Tochter ein paar "spangenfreie" Tage zu geben, oder nicht? Zumindest solange Lea sich mit "wichtigeren" Dingen befassen muss: Wie zum Beispiel zu lernen, was sie mit ihrem Gips in den nächsten Wochen beachten muss...
Und deshalb hatte sich die Mutter gerade eben ein wenig Sorgen gemacht, dass durch ihren "Fehler", den Metallbogen nicht ins Krankenhaus mitgenommen zu haben, die Spange nicht mehr passen könnte.
"So habe ich das gemeint", erklärt sie Lea.
Die nickt. "Ist ja lieb von Dir und so. Aber nein, das hat nix mit 'nicht passen' zu tun. Ich krieg's einarmig einfach nicht hin." Sie hebt den Metallbogen auf und hält ihn sich - mit der linken Hand - vor den Mund "Das Teil krieg ich ohne Probleme rein, auch nur mit einem Arm..." Sie lässt den Bogen wieder sinken, legt ihn an der Tischkante ab, und hebt das Nackenpolster auf:
"Das dumme Ding stellt sich aber quer... Ich kann es zwar auf der einen Seite an den Bogen einhaken; wenn ich das Polster dann aber auf der ANDEREN Seite einhaken will, rutscht der blöde Bogen aus den festen Spangen raus." Sie klopft mit der linken Hand leicht auf den Gips. "Ich komm' wegen dem blöden Gips mit der rechten Hand einfach nicht so zurecht, zumindest nicht, ohne, dass mir der Arm weh tut..."
"Das muss nicht sein", Die Mutter nickt verstehend. "Kann ich Dir irgendwie helfen?"
"Ich hab' mir gedacht", erwidert Lea hoffnungsvoll, "dass wir vielleicht solange warten könnten, bis ich den Gips losgeworden bin... Dann hätte ich wieder meine zweite Hand... das würde mir wirklich helfen..."
"Das kannst Du vergessen", lächelt die Mutter. "Das sind mehrere Wochen. SO lange warten wir nicht. Du weißt doch, dass Dr. Lenard darauf besteht, dass Du die Spange ausreichend trägst..." Es ist Lea deutlich anzusehen, was sie von der Mahnung ihres Kieferorthopäden hält. "Was hältst Du davon, wenn ICH Dir stattdessen helfe?"
"Nix", ist die kurze Antwort ihrer Tochter, die ihr dann auch noch die Zunge rausstreckt. "Das ist doch echt 'ne dumme Frage... kannst Du selber einsehen, ja...?" Noch bevor die Mutter antworten kann, winkt Lea ab: "Ist ja gut, ist ja gut, war nicht ernst gemeint." Dann seufzt sie erneut: "Ich hab' ja keine andere Wahl... Weil Du bestehst ja darauf, dass ich das Teil trage..."
"Kannst Du das nicht verstehen?"
"...doch, kann ich schon. Ich mag's trotzdem nicht..."
"Also gut, Schatz, nicht so viel Trübsal blasen! DU hast doch gesagt, dass Du Dich nicht unterkriegen lassen willst!", die Mutter klatscht mit Energie in die Hände, "Was soll ich tun?"
Ein letzter, ergebener - vielleicht etwas übertriebener - Seufzer, dann langt Lea nach dem Bogen, doch stupst sie währenddessen aus Versehen mit dem eingegipsten Arm den Tisch an. Das Dumme an der Sache ist, dass der Tisch tatsächlich nicht sonderlich sicher steht, nachdem die Mutter ihn abgewischt hatte. Der Tisch kippelt, der Metallbogen rutscht von der Tischfläche und klimpert auf den Boden.
"Klasse! Mist!", regt sich Lea auf, bückt sich und hebt den Bogen auf. Zumindest hat das ihrem kaputten Arm nicht wehgetan, wenigstens etwas... "Lach nicht so!", trägt sie ihrer Mutter auf, doch das ist ein erfolgloses Unterfangen.
"Bin gleich zurück", Lea trägt den Bogen ins Bad und spült ihn ab. Als sie zurückkommt, ist ihre schlechte Laune vollends verflogen. Es ist einfach zu schön, wieder zuhause in den vertrauten vier Wänden zu sein. Dass die Mutter inzwischen ihnen beiden Limonade eingegossen hat und auch daran dachte, das Glas ihrer Tochter mit einem langen Strohhalm auszustatten, hilft natürlich ebenfalls. Genauso wie der blaue Himmel und die warme Sonne, die es mehr als angenehm machen, draußen zu sitzen. In so einem Wetter KANN man nicht lange schlechte Laune behalten.
Ganz besonders dann, wenn die Außenspange gar nicht mal so sehr stört, wie Lea vorgibt. Das Mädchen hat sich erstaunlich gut daran gewöhnt...
Ja, NATÜRLICH könnte das Leben schon ein wenig schöner sein, wenn sie nicht mit so einem Zaumzeug umherrennen müsste, das ist ganz klar! Natürlich wäre es schöner, wenn sie nicht immer darauf achten müsste, das Ding ausreichend zu tragen, sodass ihr Kieferorthopäde zufrieden ist. Natürlich ist es ein klein bisschen peinlich, von Fremden damit gesehen zu werden...
Aber 'schlimm'? Nein! Schlimm ist das Teil, das sie jetzt seit ein paar Monaten tragen muss, schon lange nicht mehr. Doch DAS wird sie ihrer Mutter garantiert nicht auf die Nase binden... Lea übertreibt lieber ein bisschen mit ihrer Abneigung, bevor ihre Mutter auf allzu dumme Gedanken kommt.
Zum Beispiel darauf, dass das Töchterchen den Außenbogen auch im Krankenhaus tragen kann. DAS hätte nun wirklich nicht sein müssen! Einmal war das Thema angeschnitten worden, aber Lea hatte so ein finsteres Gesicht gezogen, dass sich das sehr schnell im Sand verlaufen hatte... Glücklicherweise ist ihre Mutter da nicht zu streng und hatte nicht darauf bestanden!
Die Außenspange zuhause in den eigenen vier Wänden tragen? Ja! Kein Problem!
Die Nachbarn haben sie damit gesehen? Das haben sie! Mehrfach!
Ihre Freunde wissen Bescheid? Nicht alle, aber die meisten!
Aber... mit dem Teil ins Krankenhaus oder... oder gar in die Schule? Nein danke, DAS muss nun auch wieder nicht sein, solange es sich vermeiden lässt!
Unter dem neugierigen Blick ihrer Mutter setzt sich Lea den Metallbogen ein. Das geht inzwischen so geübt, dass es nur ein paar Sekunden dauert. "Und wieder bin ich froh, dass ich mir den rechten Arm gebrochen hab'", Lea lacht gekünstelt. "Wobei ich nie gedacht hätte, dass ich das mal sagen würde: 'Ich bin froh, mir den RECHTEN Arm gebrochen zu haben, weil ich mir leichter tue, die Außenspange mit der LINKEN Hand reinzumachen... Boah!'"
"Und was soll ich jetzt machen?", die Mutter ignoriert die gespielte Empörung.
"ICH halte jetzt den Bogen fest, damit er nicht wieder raus rutschen kann und DU machst die Polster fest." Sie hebt ihren eingegipsten Arm hoch und langt damit an ihren Mund "Schau: ich komm zwar ohne Probleme hin; aber jetzt tut es weh, wenn ich die Hand bewege... und der Arzt hat ja gesagt, dass ich das lassen soll..."
Die Mutter greift unentschlossen nach dem "Gewirr" an blauen Bändern auf dem Tisch. "Ähmm, Mama... zuerst das kleinere Polster... Ja, genau das. Das geht hinten um den Hals rum... " Die Mutter steht auf und tritt neben ihre Tochter. Lea dreht sich so, dass sie ihrer Mutter den Rücken zuwendet.
Zu wissen, dass das Polster ein Teil der kieferorthopädischen Behandlungsgeräte der Tochter ist, ist eine Sache. Ihre Mutter hat sie natürlich dutzende, wenn nicht hunderte Male damit gesehen. Aber sagen zu können, wie das Teil genau angelegt werden muss, ist eine ganz andere! Da braucht sie die Hilfe ihrer Tochter:
"Auf jeder Seite sind schwarze Markierungen an einem von den Löchern...", erklärt Lea weiter; die Mutter inspiziert das Teil und nickt, als sie die schwarzen Punkte sieht. "Die hat eine der Helferinnen von Dr. Lenard gemacht... In diese Löcher muss der Bogen eingehakt werden..."
Die Mutter gehorcht und hakt den Lochstreifen vorsichtig auf der einen Seite in den Metallbogen ein. Sie geht dabei so betont behutsam, vorsichtig und langsam zu Werke, dass sich Lea zu einer amüsierten Antwort genötigt fühlt: "Mama, ich hab's Dir vorhin schon gesagt: Ich bin keine Porzellanpuppe. Du musst nicht so extrem vorsichtig sein... Du brauchst keine Angst zu haben, mir versehentlich einen Zahn raus zu reißen oder so."
"Ich will Dir halt nicht wehtun, Schatz. Ich kann es eben nicht gut einschätzen, ob ich zu grob bin... Soll ich Deine Haare zu einem Pferdeschwanz machen? Dann ginge das jetzt vielleicht einfacher..."
Die Mutter steht einen Schritt hinter ihrer Tochter, mit einer Hand hält sie Leas langes Haar aus dem Weg und legt mit der anderen Hand das Polster um Leas Hals.
"Ne, ein Pferdeschwanz geht nicht, wegen dem anderen Polster... Hab' ich schon probiert" Währenddessen hat Lea den Zeigefinger ihrer linken Hand zwischen den Lippen und drückt den Metallbogen leicht nach hinten.
"Genau jetzt ist mir immer der blöde Bogen rausgerutscht", nickt Lea, als sie einen leichten Druck auf den einen Backenzahn spürt. "Wenn Du jetzt am Polster ziehst, würde der blöde Bogen auf der anderen Seite rausrutschen, wenn ich ihn nicht festhalten würde..."
"Und das soll wirklich in das Loch mit der schwarzen Markierung?"
"Ja, warum?"
"Ach, es kommt mir nur so vor, dass... wie soll ich sagen, dass ich ganz schön kräftig ziehen muss..."
Lea grinst breit "Mama, ich bin so froh, ich bin SO FROH, dass Du das auch erkannt hast. Jetzt verstehst Du hoffentlich endlich, warum ich meine Außenspange 'so gerne' trage... Es tut nicht wirklich weh, aber es ist unangenehm genug, dass es einfach keinen Spaß macht, das Teil tragen zu müssen. Dass ich damit ausschaue wie ein absoluter Nerd, hilft auch nicht..."
Dann seufzt sie, als sie den vertrauten Zug an BEIDEN Backenzähnen spürt. "Für einen Moment hatte ich gehofft, dass Du mir das Teil doch nicht umschnallst... wo Du doch jetzt weißt, wie 'grausam' die Außenspange an den Zähnen zerrt... Pustekuchen..."
"Ich war ein bisschen überrascht", gesteht die Mutter, "aber nachdem Du gesagt hast, dass das immer schon so war... dann mache ich zumindest nichts verkehrt und es ist ja... 'gewohnt' für Dich." Die Mutter vermeidet absichtlich Worte wie "normal" oder "problemlos".
"Verdammt", lacht Lea, "hätte ich doch die Klappe gehalten! Oder... noch besser: Ich hätte sagen sollen, dass Du es in das Loch VOR der schwarzen Markierung einhängen sollst. "
Sie grinst breit: "Ähhh, Mama, ich seh' gerade, Du hast da einen Fehler gemacht, weil: Das ist das falsche Loch und..."
"Vorhin hätte ich Dir noch geglaubt, JETZT ist es zu spät dafür...", lächelt auch die Mutter. "Und... hey, raus da, Du freches Vieh..."
Als die beiden abgelenkt waren, hatte Spot die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sich durch die offene Terrassentüre in die Küche geschlichen. Auch wenn der Kater jederzeit willkommen ist, soll er trotzdem draußen bleiben. Ganz besonders, wenn noch die Reste des Kaffeetrinkens - inklusive der Sahne - auf der Anrichte stehen.
Beinahe könnte man meinen, der Kater sei beleidigt - oder vielleicht schuldbewusst? - denn er verschwindet schnell um die Hausecke. War er an der Sahne oder hat er vielleicht einfach etwas gehört, das ihn mehr interessiert? Denn eine leichte Brise raschelt durch die Blätter und bringt die Vögel in den höheren Ästen zum Zwitschern.
"Der kommt wieder", lacht Lea.