Kapitel 15/16
Rosa hat keine Ahnung, warum sie von ihren Eltern gebeten wurde, sich heute Abend mit ihnen im Wohnzimmer zusammen zu setzen. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass der "Ernst des Lebens" bald über ihr hereinbricht? Wollen die Eltern sie ermahnen, sich in der neuen Uni von ihrer besten Seite zu zeigen?
Das Mädchen sollte sich getäuscht haben, denn die Eltern machen ihr stattdessen einen Vorschlag: Sie hätten sich miteinander besprochen und würden ihrer Tochter gerne ein Angebot unterbreiten:
Vor einigen Wochen, als sie ihre Spangen bekommen hatte, habe sich Rosa vorbildlich verhalten. Es sei deutlich sichtbar gewesen, dass sie von ihren Spangen in den ersten Tagen sehr wenig angetan gewesen sei - Rosa streckt ihren Eltern die Zunge raus - und dennoch habe sie damals ihre Außenspange ohne Murren getragen. Und das habe sich auch in den letzten Wochen nicht geändert.
Das verdiene Respekt, erklärt ihre Mutter: "Du machst nämlich viel besser mit, als ich insgeheim befürchtet hatte. Ich gestehe, Du machst sogar besser mit als ich gehofft hatte. Ich bin direkt ein bisschen stolz auf Dich!"
Rosalynn kann nicht verhindern, dass sich ihre Mundwinkel zu einem geschmeichelten Grinsen verziehen und ihre Wangen rot werden. "Weißt Du, Mama, das schlimmste war, als ich die Außenspange zuhause zum ersten Mal reinmachen sollte. Als ich einsehen musste, dass es kein Alptraum war, dass Dr. Coleman mir den Bogen mitgegeben hatte. Dass ich jetzt wirklich so ein blödes Gestell tragen muss und dass das jetzt auch für ein paar Monate so bleiben wird..."
Dieser Metallbogen um ihr Gesicht und das Polster am Hinterkopf hatten in der Tat in den ersten Tagen ungemein genervt. Der Zug an den Backenzähnen; das ständige Gefühl, etwas zwischen den Lippen zu haben; der Druck im Nacken und das Glitzern in den Augenwinkeln: All das hatte sich absolut schrecklich und ungewohnt angefühlt.
Dann lacht Rosa; ihre Hände spielen mit den Fransen eines Sofakissens. "Die erste Nacht damit war aber noch tausend Mal schlimmer. Oh man, hatte ich das GEHASST!"
Ihre Eltern nicken und ihr Vater erwidert beinahe sanft: "Und doch hast Du die Spange weiterhin getragen ohne dass wir Dich großartig ermahnen mussten und Du hast sie auch in der zweiten Nacht wieder reingemacht!"
Rosa läuft rot an, als sie zugeben muss: "Aber nur aus einem Grund: Ich hab' nur deswegen weiter gemacht, weil Mama als Kind auch so ein Teil getragen hatte. Und weil sie mir versprochen hatte, dass es nicht so schlimm werden würde, wie ich es mir vorstelle..." Wieder lacht sie, ein hartes Lachen: "Und in den ersten Tagen war alles ZIEMLICH sch***e. Ich hatte WIRKLICH gehofft, dass Mama Recht behält."
Dann zuckt sie mit den Schultern und wendet sich direkt an ihre Mutter: "Und ich war bereit - also WIRKLICH bereit - Dir die ganze Sache um die Ohren zu hauen, wenn es nach ein paar Tagen noch NICHT besser geworden wäre..."
"Da habe ich ja Glück gehabt", lächelt die Mutter. Und der Vater setzt hinzu: "Nachdem Du keinen Wutanfall hattest, können wir wohl davon ausgehen, dass es inzwischen tatsächlich besser geworden ist, nicht wahr?"
"Ein kleines bisschen". Dann lächelt sie und schnippt als Antwort ihren Zeigefinger gegen den silbernen Metallbogen, der sich in diesem Moment um ihr Gesicht spannt. "Trag' ich das Ding jetzt oder nicht?"
Die ersten Stunden und Tage waren wirklich schlimm. Und gleichzeitig doch irgendwie auch weniger schlimm als sie befürchtet hatte. Und dafür gibt es zwei Gründe: Ihre Mutter und ihre Freunde. Denn beide hatten auf ihre jeweilige Weise erklärt, dass es zwar anfangs blöde sei, sie sich aber an die Spangen gewöhnen könne. Und diese Versicherungen - von zwei unterschiedlichen und unabhängigen Seiten - hatten ihr geholfen, die Nerven zu behalten.
Ein Blick zurück: Sie hat ihre Spangen erst vor wenigen Stunden bekommen. Sie sitzt an ihrer - neuen - Spielekonsole und versucht, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Doch das fällt ihr schwer, denn der Druck auf die Backenzähne ist ungewohnt und unangenehm.
Aber noch nicht wirklich schlimm. Und die festen Spangen beginnen gerade erst, die restlichen Zähne empfindlich zu machen. Der Kieferorthopäde hatte zwar gewarnt, dass es in den nächsten Stunden und Tagen schlimmer werden werde, bevor es besser werde, doch - zumindest momentan - ist es noch aushaltbar!
Die Reflektionen des silbernen Bogens aus den Augenwinkeln zu sehen; das Gefühl, ständig etwas zwischen den Lippen zu haben und der Druck des Nackenpads am Hals; all das ist für das Mädchen - zumindest derzeit - deutlich nerviger als die einsetzenden Zahnschmerzen. Doch selbst das kann sie mehr-oder-minder ignorieren, solange sie von dem Spiel abgelenkt wird.
Eine andere Sache ist noch viel schlimmer als alle der bisherigen Dinge zusammengenommen:
Denn so wie sich ihre Lippen und Wangen anfühlen, müssen sie inzwischen von den scharfkantigen Brackets zerfetzt und in Stücke geschnitten worden sein. Das ist deutlich schlimmer, als sie sich das vorgestellt hatte, trotz des ganzen Wachses, das sie auf die Brackets schmiert.
Danach gefragt, wie es sich anfühle, Spangen zu bekommen, hatten ihre Freunde in der Schule sie genau davor gewarnt. Und hatten ihr jedoch auch gleichzeitig versprochen, dass sie sich an das Pieksen schnell gewöhnen werde. In ein paar Tagen sei es schon deutlich besser und spätestens in ein paar Wochen wird sie sogar ganz vergessen haben, dass sie überhaupt feste Spangen trägt. Für das Mädchen klingt das zwar noch wie ein Märchen, aber Rosa will ihren Freunden glauben. Schließlich haben die schon länger feste Spangen und wissen, wovon sie reden.
Das Dumme ist nur, dass ihre Freunde ihr beim "Zaumzeug-Thema" nicht weiterhelfen können. Erstens weil sie ihren Freunden damals noch nicht verraten hatte, dass sie so ein Teil tragen muss und zweitens, weil niemand von denen - soweit sie weiß - so ein Teil tragen musste.
Es gibt aber jemanden, der Erfahrungen aus erster Hand hat: Ihre MUTTER musste als Kind so ein Behandlungsgerät über sich ergehen lassen! Und hatte ihre Mutter ihr nicht mehrfach versprochen, dass es nicht so schlimm werden würde? Und sie muss es doch wissen! Natürlich - ganz klar - will die Mutter ihre Tochter nicht verrückt machen und wird ihr deshalb nicht "alles" erzählen, aber... aber Rosa will ihrer trotzdem Mutter glauben.
Wenn ihre Freunde versprochen haben, dass sie sich schnell und ohne Probleme an ihre festen Spangen gewöhnen werde und wenn die Mutter versprochen hat, dass sie sich auch an die Außenspange gewöhnen könne...
Die festen Spangen sind zwar weniger auffällig als das Headgear, aber in dem Moment nicht weniger unangenehm! Momentan fühlt sich alles in ihrem Mund spitz und scharfkantig an, alles ist neu und unangenehm. Der "dumpfe" Druck im Nacken ist sogar noch besser aushaltbar als das Stechen der Drähte ihrer festen Spange. Momentan ist alles einfach schrecklich! Es ist kaum auszumachen, wo die festen Spangen enden und die Außenspange beginnt... Alles "verschmilzt" einfach zu einem "Mund voll Zahnspangen".
Aber wenn sie sich an den EINEN Teil ihrer Spangen gewöhnen kann - und Rosa hat keinen Zweifel, dass sie sich an die festen Spangen gewöhnen WIRD - warum dann nicht auch an den ANDEREN? Vielleicht - hoffentlich - ist das nervige Gefühl, den Metallbogen zwischen den Lippen zu spüren, in ein paar Wochen genauso normal für sie, wie es bis dahin die festen Spangen sein werden?
Zurück im Hier und Jetzt: Rosa fährt geistesabwesend mit einer Hand durch ihr Haar. Sie hatte sich vor ein paar Wochen vorgenommen, ihr Haar wachsen zu lassen, um zumindest einen Teil der Außenspange darunter verstecken zu können.
Als sie ihre Spangen bekommen hatte, war es noch nicht lang genug, um das blaue Nacken-Polster zu verbergen. Auch jetzt reicht es noch nicht ganz, sie ist aber auf dem besten Weg dorthin. In ein paar Wochen wird es endlich lang genug dafür gewachsen sein!
Nicht dass es ihr viel bringen wird, denn Rosa hat absolut kein Bedürfnis, ihre Außenspange "draußen" zu tragen. Ihre Mutter hatte gesagt, dass es reiche, wenn sie die Spange zuhause trage und Rosa hat vor, sich daran zu halten. Außer ihren Eltern - und ihren drei Freunden aus der High School - wird niemand sie damit sehen.
Sie hätte ihr Haar also eigentlich nicht wachsen lassen müssen. Und doch ist es irgendwie "beruhigend", zu wissen, dass - im Zweifelsfall - in ein paar Wochen niemand mehr erkennen kann, dass sie eine Außenspange tragen muss. Zumindest von hinten. Das hilft leider nichts gegen Blicke von der Seite oder von vorne. Das Nackenpolster lässt sich verbergen, der silberne Bogen jedoch nicht.
Aber wie gesagt: Sie hat sowieso nicht vor, die Außenspange dort zu tragen, wo sie auf "fremde Leute" treffen könnte. Von daher ist alles halb so wild!
Als die Mutter weiterspricht, unterbricht sie den Gedankengang ihrer Tochter: "Wir würden Dir gerne etwas vorschlagen: Du hast in den letzten Wochen so gut mitgearbeitet; Du hast so ernsthaft versucht, Dich an Deine Außenspange zu gewöhnen... Wir sind der Meinung, dass das nicht selbstverständlich ist und dass das eine Belohnung wert ist. Was meinst Du?"
Lynns Mundwinkel deuten nach oben. Sie freut sich ungemein. Weniger über die angedeutete Belohnung und mehr über das Lob, das ihre Eltern ausgesprochen haben. Sie hatte WIRKLICH ernsthaft versucht, sich mit ihrem Zaumzeug anzufreunden. Das ist etwas, das sie selbst von sich nie erwartet hätte. Dass das von ihren Eltern erkannt und honoriert wird, bedeutet ihr viel. Gleichzeitig ist sie natürlich auch neugierig, was sich die Eltern unter einer passenden "Belohnung" vorstellen.
"Weißt Du, Rosa", beginnt die Mutter: "Wir haben schon gemerkt, dass Du enttäuscht warst, als Du im UPT nicht die passende Note geschrieben hattest für den Urlaub in Frankreich. Du hattest uns deswegen gebeten, Belohnungen durchtauschen zu dürfen. Das hatten wir ja damals abgelehnt, wie Du sicher noch weißt."
Rosa verdreht die Augen: Und ob sie das noch weiß. Denn wenn ihre Eltern erlaubt hätten, dass sie sich für ihre geschriebenen Noten frei die Belohnungen aussuchen dürfte, würde sie nun ganz sicher NICHT mit einer Außenspange um den Kopf im Wohnzimmer sitzen.
Der Vater setzt an: "Wir sind nach wie vor der Meinung, dass das damals gerecht war: Wir haben etwas ausgemacht - Du und wir - und wir haben uns beide daran halten müssen - Du und wir." Er lächelt leicht: "Ja, ich gebe zu, das hatte für Dich die 'dumme' Konsequenz, dass Du keine unauffälligen Zahnspangen bekommen hast - aber Rosa - Du hast doch selber zugegeben, dass Du Dich inzwischen daran gewöhnt hast..."
Das Mädchen schüttelt ihren Kopf: "Gar nicht. Ich hab' mich garantiert NICHT an die dumme Außenspange gewöhnt!" Dann winkt sie ab, ein schmales Grinsen in ihrem Gesicht: "Aber... aber auf der anderen Seite ist es auch nicht GANZ SO schlimm geworden wie befürchtet..."
"Dann eben so", lächelt der Vater. "Was ich sagen wollte, war: Du hast Deine Playstation bekommen; Du warst shoppen und willst das neue Kleid am ersten Schultag in der Uni tragen. Und Du musst Dir - wie Du gerade zugegeben hast - nicht die Augen ausweinen über Deine Spangen. Mit anderen Worten: Bei drei von den vier Belohnungen hast Du keinen Grund zur Klage..."
"Bei der vierten auch nicht", wendet Rosa schnell ein. "Death Valley ist zwar nicht Frankreich, aber sicher auch die Reise wert!"
Sie will garantiert nicht undankbar erscheinen. Die "Standpauke", die ihre Eltern ihr vor einigen Wochen gehalten hatten, hatte ihren Zweck erfüllt: Inzwischen hatte sie nämlich so langsam aber sicher eingesehen, welche Kosten sie ihren Eltern verursacht hatte. Und dass sie sich mit ihren Wünschen vielleicht etwas weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Ihre Eltern nicken, sichtbar erfreut darüber, dass ihr Töchterchen vernünftig genug ist, das einzusehen.
"Das stimmt schon, Death Valley ist beeindruckend und ganz sicher eine Reise wert", stimmt der Vater zu. "Deswegen hatten wir es Dir ja damals auch vorgeschlagen."
"Aber weißt Du, Schatz", nimmt seine Frau den Faden auf: "Ich will Dir mal etwas verraten: Weißt Du, warum wir Dir als Gegenleistung für ein 'A' vorgeschlagen hatten, zusammen nach Frankreich zu fliegen?"
Rosa schüttelt ihren Kopf. Die Frage hatte sie sich noch nicht gestellt. Jetzt aber hört sie umso neugieriger zu. Ihre Eltern blicken sich an und für einen Moment schmelzen ihre Gesichtszüge; sie halten Hände und grinsen sich wie über beide Ohren verliebte Teenager an. Rosa bekommt große Augen: So kennt sie ihre Eltern gar nicht.
"Wir haben unsere Flitterwochen in Frankreich verbracht." erklärt der Vater, "Und wir hätten nichts dagegen, nochmal dorthin zu gehen." Und seine Frau setzt lächelnd hinzu: "Ich muss gestehen, wir waren - genauso wie Du - ein wenig enttäuscht, als Deine Note nicht für Frankreich gereicht hatte..."
"Meint Ihr das ernst?" Rosa starrt von ihrem Vater zu ihrer Mutter und zurück. Und als beide nicken, wirft sie ihren Kopf in den Nacken: "Meine Güte. Das ist doch wirklich dämlich! Wenn Ihr selber die ganze Zeit nach Frankreich gewollt habt, warum habt Ihr dann nicht diese dämlichen Regeln über Bord geworfen? Das wäre für uns alle einfacher gewesen." Sie greift nach dem Metallbogen: "Und ich hätte mich jetzt nicht DAMIT abfinden müssen..."
"Du weißt doch, Rosa", beginnt der Vater, doch seine Tochter unterbricht ihn: "Ja, ja, ich weiß: 'Regeln sind Regeln'!" Dann seufzt sie. "Aber jetzt will ich EUCH mal was sagen: Manchmal sind Regeln einfach nur dämlich!"
Ein weiterer Seufzer, lang und anhaltend. "Aber jetzt ist es sowieso zu spät. Jetzt hab' ich meine Außenspange und jetzt trag' ich sie auch so gut es geht! Alles andere macht keinen Sinn mehr! Soviel verstehe ich auch!"
Eine Sekunde vergeht, eine weite ebenfalls. Dann grinst sie breit: "Aber verstehe ich Euch richtig? Ihr wollt mir wirklich weißmachen, dass... dass wir nach Frankreich fliegen?"
"JETZT macht es keinen Sinn mehr, die Ferien sind ja schon vorbei", beschwichtigt der Vater. "Aber nächste Sommerferien? Klingt das brauchbar?"
Das Grinsen in Rosas Gesicht ist nur unwesentlich schmaler als der Metallbogen, den sie trägt. Begeistert klatscht sie in die Hände.
"Unter der Voraussetzung", wirft die Mutter ein: "dass Du Deine Außenspange weiterhin vorbildlich trägst. Schließlich soll das ja eine Belohnung für Deine Mühen sein. Da wäre es doch blöd, wenn Du jetzt nachlassen würdest..."
Nun fällt das breite Grinsen doch etwas in sich zusammen. Unsicher sieht sie ihre Mutter an: "Was soll ich mir denn bitte unter 'vorbildlich' vorstellen?" Was würden ihre Eltern von ihr verlangen? Wie anstrengend würde es werden, wenn sie wirklich alles machen müsse, damit die Eltern zufrieden sind?
Gehört zu diesem "vorbildlich" vielleicht sogar dazu, dass die Eltern erwarten, dass sie die Außenspange in der Uni tragen soll? Falls ja, würde Frankreich ein Traum bleiben.
"Davon kann keine Rede sein", schüttelt ihre Mutter den Kopf. "Ich habe Dir doch versprochen, dass ich NIE von Dir fordern würde, die Spange in der Schule zu tragen. Nein, es ist eigentlich ganz einfach: Trage die Spange einfach so weiter, wie Du sie in den letzten Wochen getragen hast und Du bist auf dem besten Weg."
Dann wiegt sie ihren Kopf: "Und wenn Du noch ein bisschen mehr versuchen könntest, den Bogen auch nachmittags zu tragen, wenn Du aus der Uni kommst, dann habe ich keine Klagen mehr. Meinst Du, dass Du das schaffen kannst?"
Als Antwort kehrt das breite Grinsen in das Gesicht ihrer Tochter zurück. "Also komm' ich doch noch nach Frankreich!"