Donnerstag Nachmittag
Kapitel 02/15 - Die fremde Praxis
"Viel Glück, HIER 'nen Parkplatz zu finden", ätzt Tanja, ziemlich schlecht gelaunt.
"Ja, es sieht nicht gerade vielversprechend aus...", ihr Vater schüttelt den Kopf, während er das Auto vorsichtig über den kleinen Platz manövriert.
Und wirklich ist die Umgebung restlos zugeparkt. Nicht nur jeder Parkplatz ist voll, sondern wirklich JEDE Fläche, die gerade groß genug ist, ein Auto drauf zu stellen, ist belegt. Und die Zwischenräume sind mit Rollern zugestopft. Selbst für die kreative Fahrweise, die man normalerweise Südeuropäern zuschreibt, ist diese "Piazza" hoffnungslos überfüllt.
Das ist aber auf der anderen Seite auch verständlich, denn in dieser Hitze versucht nun wirklich jeder, nicht draußen sein zu müssen. Und wenn man das Auto dann für ein paar Stunden einfach mal "irgendwie" abstellt... naja, dann ist das halt so!
"Jetzt weiß ich auch, warum italienische Autos kleiner sind. Hier kommt man ja fast nicht mehr durch" Der Vater hat Schwierigkeiten, den Van zwischen zwei abgestellten Rollern durch zu fädeln. Auf jeder Seite bleiben nur wenige Zentimeter.
"Und wenn Du dahinten schaust?", seine Frau deutet auf eine Straße, die pfeilgerade von dem Platz wegführt.
"Was anderes wird uns nicht übrigbleiben..."
"Doch! Wir könnten wieder zum Ferienhaus zurück fahren", lässt sich Tanja vom Rücksitz vernehmen. Die Erwachsenen reagieren gar nicht erst darauf.
Ein paar Minuten später ist endlich ein Stellplatz gefunden, auch wenn er sich dafür von seiner Frau in die winzige Parklücke hat einwinken lassen müssen. Dafür haben sie Glück und sind gar nicht so weit wie befürchtet von dem Haus entfernt, an dessen Türe - neben einem halben Dutzend anderer - das Schild "Dr. Moretti" haftet.
Die Luft flimmert über dem aufgeheizten Asphalt; der Tag ist - wie befürchtet - extrem heiß geworden. Die Hitzewelle macht ihrem Namen alle Ehre... Als sie vor der Praxistüre ankommen, stehen allen drei bereits ein paar Schweißtropfen auf der Stirn.
"So, da wären wir. Was wir nicht alles für unser geliebtes Töchterchen machen...", scherzt der Vater.
Die mustert ihn verärgert, denn es ist genau das eingetreten, was sie befürchtet hatte: Ihre Eltern haben eben NICHT auf Dr. Mahlmann gehört, sondern haben die ganze Angelegenheit aufgeblasen bis zum Geht-nicht-mehr. Von "vernünftigem Handeln" keine Spur, sondern "maßloses Übertreiben" scheint die aktuelle Devise zu sein. Und das nervt gewaltig. Kein Wunder also, dass Tanja schlechte Laune hat.
Ihr wäre es viel lieber gewesen, wenn ihre Eltern die Sache mit dem abgegangenen Bracket einfach auf sich hätten beruhen lassen. Sie können ja sowieso nichts machen, da hätten sie sich - und ihr - das ganze Gehampele auch gleich sparen können...
Dabei ist es jetzt nicht so, dass Tanja große Probleme mit ihren Zahnspangen hätte. Drei Monate hatte sie schließlich schon Zeit, sich an die dauerhaften Fremdkörper in ihrem Mund zu gewöhnen.
Wie eigentlich bei jedem Spangenträger hat das auch funktioniert. Das mit dem Dran-Gewöhnen. Zum größten Teil zumindest. Mit Ausnahme der ersten Woche, in der natürlich noch alles neu und fremd war, hatte sie nie wirklich übermäßige Probleme mit den festen Spangen.
Andererseits kann sie leider aber auch nicht behaupten, sich inzwischen VOLLKOMMEN und absolut mit ihrem Silberlächeln abgefunden zu haben.
Jetzt nicht im Sinne von: "Ich traue mich nicht mehr zu lächeln und kneife immer meine Lippen zusammen, damit niemand meine Zahnspangen sehen kann..." Nein, so schlimm ist es bei weitem nicht. War es auch nie. Wirklich nicht! Großes Ehrenwort!
Es wäre vielleicht treffender, zu sagen: Alles ist in Ordnung, solange man die Spangen einfach das sein lässt, was sie sind: Ein notwendiges Behandlungsinstrument und - im Gegensatz zum Beispiel zu einem Paar Ohrringen - KEIN modisches Accessoire.
Zahnpangen sind - kurz gesagt - nichts, was einer gesteigerten Aufmerksamkeit bedarf. Nichts, was man ständig ansprechen müsste. Oder SOLLTE.
Mit anderen Worten: Im Alltag stören die Spangen ganz und gar nicht mehr, Tanja redet und lacht damit wie alle anderen auch. Nur in Situationen wie jetzt, wenn also ihr Silberlächeln in den Mittelpunkt des Geschehens rückt, wird ihr die ganze Sache dann doch noch unangenehm und peinlich.
"Einfach nicht auf dem Thema rumreiten, im Zweifelsfall lieber mal die Klappe halten und mich damit in Ruhe lassen, dann passt alles...", ist ihr Credo.
Ja, OK, es ist ärgerlich, dass das Bracket abgegangen ist, aber das ist doch kein Weltuntergang! Hat doch auch Dr. Mahlmann gesagt... Das ganze Heck-meck, das ihre Eltern veranstalten, geht ihr gehörig auf die Nerven. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Glücklicherweise ist die Praxis ziemlich leer. Nur ein Junge, etwas jünger als sie selbst, spielt im Wartezimmer auf seinem Handy, ansonsten ist tote Hose. Und das ist gut so, denn Tanja kann diese Art der Aufmerksamkeit ja nicht leiden.
Und dass sie - als typisch deutsche Touristen - es schaffen, in einer kieferorthopädischen Praxis im Herzen Italiens inkognito zu bleiben, das ist mehr als unwahrscheinlich. Es ist unmöglich! Sie WERDEN also auffallen wie bunte Hunde!
Es beginnt schon damit, dass die junge Frau hinter dem Tresen - die laut Namensschild Giulia heißt - sie auf Italienisch anspricht.
"Oh, I'm sorry, I... ähhh... cannot understand you...", antwortet ihre Mutter verlegen.
Italienisch spricht keiner in der Familie... Und was Englisch anbelangt: Sie selbst ist ja noch in der Schule und kann nur wenig Englisch. Tanja macht sich da keine Illusionen, denn sie weiß selbst, dass ein paar Jahre Schulenglisch nicht viel bedeuten. Und das Englisch ihrer Eltern ist... nun ja, nennen wir es vorsichtig mal "deutlich eingerostet".
Soll heißen: Sie müssen sich ihren Weg zum Ziel radebrechend erkämpfen. Und dabei zwangsweise noch mehr auffallen... Dass ihre Mutter die nervige Angewohnheit hat, ALLES erklären zu wollen und sich deshalb in vollkommen unnötigen Details verliert, hilft auch nicht.
Mit wachsendem Unbehagen verfolgt Tanja deshalb, wie die Mutter versucht, der verwunderten Sprechstundenhilfe zu erklären, was geschehen ist und warum sie hier sind. Und sich dabei immer weiter verheddert, sodass am Schluss niemand mehr weiß, was eigentlich gesagt wurde.
Verdammt ist das peinlich. Ein schneller Blick lässt erkennen, dass der Junge im Wartezimmer das Handy hat sinken lassen und das Geschehen interessiert verfolgt. Schließlich wird es Tanja zu dumm. Als ihre Mutter wieder mal eine Pause einlegt und nach Wörtern sucht, übernimmt sie das Kommando:
"Yesterday I have lost a bracket". Und sollte das immer noch nicht verständlich genug sein, deutet sie dabei auf ihren Mund. "And my parents think that you can... ähm... fix it..."
"Siehst Du Mama, so schwer war das doch jetzt nicht", denkt sich Tanja. Und die Helferin ist sichtbar erleichtert, jetzt endlich den Grund verstanden zu haben. Denn bisher hatte sie nur in Erfahrung bringen können, dass die Anwesenheit der Deutschen etwas mit Oliven zu tun haben muss...
"Ah, I see. Let me get the doctor for you. Please, follow me... take a seat..." Sie kommt hinter dem Tresen hervor und führt die Familie ins Wartezimmer. Auf dem Weg, dem Doktor Bescheid zu geben, nimmt sie gleich den letzten verbleibenden Patienten mit, sodass die Drei allein sind.
Die Sonne knallt durch das Fenster rein, die Stühle im Wartezimmer sind so heiß, dass alle Drei es vorziehen, stehen zu bleiben. "Warum hast Du eigentlich gesagt 'My parents think...'" erkundigt sich der Vater. "Das klingt fast so, als ob Du anderer Meinung bist..."
Tanja schüttelt den Kopf. "Ist einfach nur das erste, was mir eingefallen ist." Was glatt gelogen ist, denn sie hat diesen kleinen Seitenhieb mit voller Absicht eingebaut. Sie ist nämlich immer noch ein wenig sauer auf ihre Erziehungsberechtigten:
"Schließlich haben die mich hierher geschleift, auch wenn klar ist, dass die Leute hier uns hier nicht helfen können... Und dafür darf ich mich doch ein wenig rächen, oder etwa nicht? Ist ja nur die Wahrheit...", rechtfertigt sie ihre schlechte Laune...
Kapitel 03/15 - Die Einschätzung
Ein paar Minuten vergehen, bis der Junge von vorhin - der letzte Patient des Tages - abgearbeitet ist und der Arzt Zeit für sie findet. Ein großer, sportlicher, sonnengebräunter Mann mittleren Alters, dem man sofort glauben würde, dass er in der Frei-zeit mit einigem Erfolg auf dem Surfboard Wellen reitet.
Er wurde anscheinend schon von der Helferin informiert, denn er spricht sie sofort auf Englisch an: "Good day! My name is Moretti. How can I help you?"
Die Eltern überlassen Tanja freiwillig das Feld: "Yesterday I lost a bracket", wiederholt sie, "and my pare... we hope that you can help us and... ähm..."
Bäm, jetzt ist sie selbst in die Falle getappt und sucht nach Worten: Wie sagt man auf English: "das Bracket ersetzen?" Ihr will das blöde Wort nicht einfallen... peinlich...
Doch auch so scheint der Arzt glücklicherweise zu verstehen, was von ihm gewünscht wird. Er macht jedoch ein nachdenkliches Gesicht... "I think, I understand... but why are you here?"
"Ähmm...?" Die Angesprochene sieht ihn erstaunt an. Sie weiß nicht wirklich, was sie darauf erwidern soll, schließlich ist doch offensichtlich, WARUM sie hier sind...
Dr. Moretti sieht sich zu einer Erklärung genötigt: "What I mean is: I'm not sure if I can help you... You should go and see your own... ahh... denti... ahh... orthodontist!"
Es ist seltsam beruhigend, festzustellen, dass ihre Familie nicht die Einzige ist, der die Kommunikation in Englisch nicht leicht über die Lippen geht. Auch Dr. Moretti muss nach Worten suchen.
Dass das englische Wort für Kieferorthopäde "orthodontist" lautet, weiß Tanja nur deswegen, weil sie auf der Fahrt hierher auf ihrem Handy ein paar Worte nachgeschaut hatte, um sich für das Gespräch zu wappnen. Im normalen Schulenglisch kommen solche Worte nämlich nicht vor. Und sie wollte verstehen, was ihre Eltern mit dem Arzt besprechen. Sie hatte nie gedacht, dass sie das Gespräch am Schluss selbst FÜHREN muss... Umso froher ist sie, dass sie sich ein paar seltenere Worte zurecht-gelegt hatte.
"He is in Germany, over one thousand kilometers away..." schüttelt Tanja ihren Kopf. Auch wenn sie am liebsten sagen würde: "Da bin ich voll und ganz Ihrer Meinung, aber meine Eltern stellen sich zu blöd an..."
"Ah... I see, that is a problem...", lächelt der Arzt dünn. "That is a bit far..." und setzt dann hinzu: "Still, why do you come to me? Why do you not wait? Is it really that urgent?"
Tanja hat etwas Schwierigkeiten, die Frage zu verstehen, das Wort "urgent" ist ihr nicht geläufig. Bis sie sich einen Reim darauf gemacht hat, was der Arzt von ihr will, hat schon ihre Mutter eine Antwort begonnen: "We... ähm... talked to our doctor and he said... ähm... that it is important, yes..."
Vielleicht ist es gut, dass Tanja mit der Antwort gezögert hatte. Auch so wirft sie ihrer Mutter schon einen genervten Blick zu und ist versucht, zu sagen: "Nein, DAS hat Dr. Mahlmann nicht gesagt...", aber sie besinnt sich eines Besseren. Auch wenn die Italiener sie garantiert nicht verstehen würden, muss sie hier und jetzt keinen Streit vom Zaun brechen...
"OK, I can understand that.", nickt Dr. Moretti leicht. "Still, there is another problem:"
"Every orthodontist has his... ahh... own system of braces, you see. These brackets have a different form..." erklärt Dr. Moretti, unsicher, an wen aus der Familie er sich wenden soll, "and I'm not sure, if the system your doctor uses, is... ahh... can be used with mine, you understand?"
Tanja nickt. Ja, das versteht sie wieder. Ist das doch das absolut gleiche Argument, das ihr eigener Kieferorthopäde heute Morgen im Gespräch mit ihrer Mutter vorgebracht hatte:
"Sehen Sie, Frau Maier", hatte er erklärt, "es gibt da mehrere Systeme von festen Spangen auf dem Markt und die sind untereinander nicht kompatibel. Man kann nicht einfach ein Teil aus dem einen Baukasten nehmen und mit Teilen aus einem anderen Baukasten zu einer festen Zahnspange kombinieren... so einfach geht das leider nicht!"
Und niemand könne garantieren, dass ein zufällig ausgewählter Arzt denselben Baukasten verwende... Dr. Mahlmann hatte zwar gemeint, dass er ein weit verbreitetes System einsetze, aber dennoch sei das kein Garant dafür, dass sich so einfach Hilfe finden lasse...
Sie dreht sich zu ihren Eltern um, mit einer Miene, die ganz offensichtlich besagt: "Das hab' ich Euch doch schon mehrfach gesagt, aber Ihr habt nicht auf mich hören wollen..."
Ihre Eltern hatten dennoch, wider besseres Wissen, entschieden, einfach auf gut Glück einen Kieferorthopäden hier vor Ort aufzusuchen. Jetzt sollen die sich um die Situation kümmern, ist schließlich DEREN Problem!
"You are sure, that it will not work?", versucht sich die Mutter pflichtgemäß, "Our... ähm... doctor said, that... that it is very important, that her braces are... ähm... repaired"
Tanja verdreht ihre Augen. "MAMA, das ist peinlich..." denkt sie sich.
Außerdem ist das nicht ganz wahr; oder zumindest übertrieben. Ja, OK, zugegeben: Dr. Mahlmann HATTE am Telefon gesagt, dass das Bracket tatsächlich zu einer dummen Zeit abgegangen sei. Gerade in dieser Phase der Behandlung würden sich die Zähne recht viel bewegen und daher sei es wichtig, dass alle Zähne diese Bewegung möglichst gleichmäßig mitmachen würden. Sonst würden sich dadurch unnötig Lücken auftun...
Auf der anderen Seite hatte er aber auch gesagt, dass es nicht nötig wäre, sich den Stress zu machen und zu einem anderen Kieferorthopäden zu gehen. Vor allem wenn sich nicht abschätzen ließe, ob dieser Kollege auch wirklich etwas ausrichten könne... Unterschiedliche Baukastensysteme und so...
Es müsse notgedrungen reichen, wenn Tanja bei ihm vorbeikäme, sobald sie aus dem Urlaub zurück sei. Das sei zwar alles andere als ideal, aber der "Schaden" sei auch nicht so groß, dass es den Behandlungsplan nennenswert durcheinanderbringen würde... und ein abgefallenes Bracket sei schon gleich gar nichts, was man später nicht mehr reparieren könne...
Also ganz genau das, was Tanja von Anfang an prophezeit hatte: Die einzige logische und sinnvolle Antwort, die der Arzt geben konnte.
Doch ihre Eltern - und das ist typisch, absolut typisch - hatten nur das gehört, was sie hören wollten. Und den Rest hatten sie verworfen. So wie sie es immer machen. Doch damit nicht genug: Die Erwachsenen ignorieren nicht nur eine Hälfte, sondern verstehen die andere Hälfte auch noch falsch!
Dass sie hier selbst übertreibt und ein wenig ungerecht ist, will Tanja nicht zugeben. Denn ganz offensichtlich HABEN ihre Eltern irgendwas falsch aufgefasst:
So wie sie sich verhalten, haben sie - aus welchem Grund auch immer - das Telefon-Gespräch so interpretiert, dass es STARKE negative Konsequenzen haben würde, wenn das Bracket nicht SCHNELLSTENS wieder angebracht werde. Auch wenn Dr. Mahlmann das definitiv so NIE gesagt hatte.
Deswegen hatten sie sich ihre Tochter geschnappt und waren zum erstbesten Kieferorthopäden gefahren, den sie über Google Maps haben finden konnten. Und das ohne Voranmeldung. Ohne zu klären, ob der Arzt überhaupt helfen kann. Am späten Nachmittag, nur Minuten bevor sie hier Feierabend machen... Bravo. Echt klasse... Das ist so typisch! Erst mal schnell-schnell überstürzt IRGENDWAS machen und dann später nachdenken...
"...smile for me?", beinahe überhört Tanja die Aufforderung des Arztes, so versunken war sie in Gedanken. Doch dann gehorcht sie. Ihre Lippen teilen sich und sie setzt ein gezwungenes, extrabreites Lächeln auf.
Die Wangen werden noch ein wenig roter als sie sowieso schon sind. Man, das ist SOO peinlich! Sie steht hier mitten im Warte-zimmer und fletscht die Zähne. Und außen herum stehen vier Erwachsene und schauen sie an... Glücklicherweise sind keine anderen Patienten mehr da...
Dr. Moretti wiegt den Kopf. "Well, it looks like my system... it could work... let's have a better look" Dann dreht er sich um und winkt der Familie, ihm zu folgen. Der Weg führt sie in einen kleinen Raum, in dem ein einzelner Behandlungsstuhl steht. Es ist heiß und stickig. Die Sonne knallt auch hier durch das Fenster herein.
"Please sit down", wendet er sich an Tanja. Mit wenig Enthusiasmus gehorcht sie. Als ihre Haut den Kunstleder-Stuhl berührt, hat sie beinahe das Gefühl, mit dem Kunststoff zu verschweißen. Das Metall der Armlehne ist so heiß, dass sie ihren Arm dort nicht ablegen kann.
Dann wendet er sich an seine Helferin. In Italienisch, das die Familienmitglieder natürlich nicht verstehen. Die junge Frau verschwindet und kommt kurz darauf mit mehreren Kästen zurück, aus denen der Arzt ein Bracket heraussucht.
"Smile again", trägt er seiner Patientin wieder auf. Kurz darauf nickt er, erstaunt und befriedigt. "Well, you're in luck", ist seine Antwort. Sein System sei - wie es aussieht - mit dem anderen kompatibel, er könne also das abgegangene Bracket ersetzen.
Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass ihre Eltern erleichtert zu sein scheinen. "Yes? Wonderful, please do it!", hört sie ihre Mutter wieder.
Und wie denkt Tanja selbst darüber? "Ja, ja, wunderbar und alles... so ein Käse! Aber Mama und Papa werden natürlich keine Ruhe geben, also: Je schneller wir es hinter uns bringen, desto besser!", trifft es recht genau.
Allerdings gebe es da vorher noch eine Sache zu klären, wendet sich der Kieferorthopäde mit ernster Miene den Eltern zu. Tanja versteht nicht viel von dem, was Dr. Moretti als nächstes sagt. Zu viele Begriffe, die sie nicht kennt. Sie hat nur das Gefühl, dass es etwas mit Geld zu tun haben muss...
Doch ihre Eltern scheinen dieses Mal besser zu verstehen, worum es geht. Vielleicht, weil sie das Argument erwartet hatten?
"Yes, that is OK", antwortet schließlich der Vater. Er scheint das verdutzte Gesicht ihrer Tochter gesehen zu haben: "Das müssen wir selbst bezahlen, die Krankenkasse wird die Kosten nicht übernehmen".
Tanja zuckt mit den Schultern: "Da hab' ich wenig Mitleid mit Euch, schließlich habt Ihr mich hierher geschleppt. Ist Euer Problem!"
"Wir warten draußen, wenn es Dich nicht stört!", der Vater klingt auf einmal ein wenig genervt. "Das Zimmer ist ein bisschen eng für fünf Personen..."
Diese Geschichte wurde "vor Corona" geschrieben ;-)
"Ist gut", ist Tanjas knappe Antwort. Doch insgeheim denkt sie sich: "Meine Güte, Papa! Macht, dass Ihr verschwindet... Es ist so schon peinlich genug, da braucht Ihr nicht auch noch hier rumzustehen... Ich bin kein kleines Kind mehr, das schaff' ich auch ohne Euren 'Beistand'!"
Der Stuhl setzt sich in Bewegung und bringt sie in eine liegende Position.