Schüler kriegt keine Kassen-Zahnspange
Kieferorthopäden wollen nur bei privater Zuzahlung der Eltern behandeln - Krankenkasse protestiert
Versuchen Kieferorthopäden in der Region Budgeteinbußen im Zuge der Gesundheitsreform jetzt bei den Patienten wieder hereinzuholen? Dieser Verdacht drängt sich auf, nachdem offenbar mehrere Ärzte einem 14-jährigen Schüler die Zahnkorrektur mit Spange auf Chipkarte abgelehnt haben. Nur wenn sie Zusatzleistungen für rund 1000 Euro selbst zahle, bekomme ihr Sohn eine Behandlung, klagt die Mutter. Die Betriebskrankenkasse der Stadt hat jetzt den Kassenzahnärzte-Verband eingeschaltet.
"Ich kann den Bub doch nicht sein Leben lang mit krummen Zähnen herumlaufen lassen", ist Oma Renate Wöck empört. Auch Mutter Herta Wöck versteht die Welt nicht mehr: Ihrem Daniel (14) soll eine kieferorthopädische Behandlung über die Chipkarte verwehrt werden. "Die Zusage der Kasse haben wir, nur keinen Arzt, der es ohne Zuzahlung macht", klagt sie. Was war passiert? Kieferorthopäde Dr. Christian Schiemann in Neusäß unterbreitete der Familie einen Behandlungsplan und empfahl dringend Zusatzleistungen. Als die Wöcks auf das außervertragliche Angebot über knapp 1000 Euro nicht eingingen, habe der Arzt den Buben gar nicht behandelt. Und genauso sei es ihr bei Augsburger Kieferorthopäden gegangen. Mehrere Telefonate hat Herta Wöck schon hinter sich. Tenor: Ohne die Bereitschaft zu freiwilligen Zuzahlungen brauche man sich in den Praxen gar nicht erst vorstellen.
"Es gab einen triftigen Grund, weshalb in diesem Fall eine Behandlung allein auf Chipkarte nicht möglich ist", sagt Dr. Schiemann auf AZ-Anfrage. Ohne Entbindung von der Schweigepflicht könne er aber keine Details nennen.
Generell bestehe heute in der Kieferorthopädie das Problem, dass die Methoden zur Zahnregulierung, die von den Kassen als "ausreichend und wirtschaftlich" eingestuft sind, nicht mehr dem Stand der Technik entspreche. Den Patienten sei deshalb in aller Regel dringendst zu Verfahren zu raten, die aber selbst bezahlt werden müssen. Das wird von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung KZVB bekräftigt. Es sei "gang und gäbe", dass Zusatzleistungen vereinbart werden, berichtet Bezirkstellenvorsitzender Dr. A. Stiegelmayr. "Es gibt ein breites Spektrum von Maßnahmen, Zuzahlungen sind zulässig", sagt auch Dr. Andreas Schweiger, der bis vor kurzem Sprecher für Kieferorthopädie der KZVB in Schwaben war. .
Richtig sei, dass es immer wieder zu Kontroversen über Behandlungsarten und Finanzierung zwischen Ärzten, Patienten und Kassen komme. Laut Stiegelmayr gibt es aber keine generelle Richtschnur, wie sich die Kollegen im Einzelfall verhalten sollen: So wie der Patient die freie Arztwahl genieße, so stehe Medizinern die freie Patientenwahl zu - solange es sich nicht um Not- oder Schmerzfälle handelt.
Ablehnungen könnten also vorkommen. Gerade bei längerdauernden Behandlungen wie der Kieferorthopädie sei ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient nötig, unterstreicht auch Dr. Michael Dillig als Obmann des schwäbischen Berufsverbands. So einfach sieht man das auf Kassenseite nicht: Das Problem sind , so Rudolf Titz von der AOK Bayern, nicht die Zusatzleistungen, die über den "im Regelfall ausreichenden" Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung hinaus gehen. Vielmehr werde auf Patienten Druck ausgeübt, die (teuren) Zusatzverträge abzuschließen.
Die Motivation sei naheliegend: Mit der Gesundheitsreform sind die Honorare der Kieferorthopäden gekürzt worden. Die Einbußen lägen laut Kassen bei 20 Prozent, nach Angaben der Betroffenen bei bis zu 40 Prozent. Den Eindruck, dass zunehmend Mehrleistungen bei den Versicherten abgerechnet werden, hat auch Rainer Ullrich, Geschäftsführer der Barmer Ersatzkasse. "Das scheint zuzunehmen." Krassester Fall sei eine Zusatzforderung über 4000 Euro gewesen.
Die Grenze ist für die Kassenvertreter dann überschritten, wenn ohne Zusatzvereinbarung nach dem Motto "Schneller, schmerzfreier und ästhetisch optimaler" eine Behandlung auf Chipkarte gleich ganz abgelehnt wird - wie bei Familie Wöck. In diesem Fall hat daher die städtische BKK, so Vizevorstand Dieter Bannwolf, bei der KZVB protestiert. Die Prüfung läuft noch.
Mindelheimer Zeitung vom 17. Nov. 2004